@dmerkel schrieb: - Die Systemtheorie verstehe ich als eine Theorie, die das System, seine Leistungsfähigkeit, seine Stärken, seine Schwäche zunächst ohne (!) den Menschen betrachtet. Hallo Zusammen, die Systemtheorie definiert Dinge auch darüber, was sie nicht sind. Man kann also ein System nicht ohne seine Umwelt betrachten. Es geht immer um die Wechselwirkungen zwischen "innen" und "außen." Und die Menschen der Organisation handeln in der Definition außerhalb des Systems, d.h. man betrachtet die Wechselwirkung (Kommunikation) zwischen dem System "DATEV" und einer Umwelt "Mitarbeiter der DATEV." Ein einfacher Satz lautet: "Menschen handeln intelligent im Rahmen des Systems." Nehmen wir ein Beispiel: Wenn wir eine Mehrjahres-Roadmap der DATEV veröffentlichen und alles daran ausrichten, dann werden alle Mitarbeiter versuchen, das versprochene Ziel um jeden Preis einzuhalten. Klingt gut? Ist es auch. Außer es passieren Dinge, mit denen man nicht gerechnet hat. Und die passieren ständig. Beispiel: Kunden haben Anmerkungen / Probleme damit 🙂 Ein "Flurfunk" bei der Deutschen Bahn lautet: "Die Bahn könnte reibungslos fahren, wenn nicht die Passagiere wären." Man kann versuchen alles zu planen und zu optimieren ("Steuerung"), aber irgendwann stößt man auf die Wirklichkeit (das "Außen"). @dmerkel schrieb: - Wie kann man wirklich am System (Hinterbühne) arbeiten? - Was passiert mit dem System, wenn "Querdenker" beginnen am System zu arbeiten? - Bleibt das System dann stabil? - Wie wirkt sich das Immunsystem aus? Jedes System wehrt sich! - Wie kann ich die "Veränderungswilligen" schützen? - Wie kann ich die "Mehrheit" in die Arbeit am System mitnehmen? Arbeit am System ist aus meiner Sicht ganz einfach - man muss nur zwei Fragen immer wieder stellen: Was können wir tun oder lassen, um 1. die Menge der Überraschungen, die wir produzieren, zu erhöhen? ("Innovation") 2. die Menge der Überraschungen, die wir aushalten und auf die wir adäquat reagieren können, zu erhöhen? ("Anpassungsfähigkeit" / "Reaktionsfähigkeit") *** Ein Bild das mir zur Orientierung gut gefällt ist das "Pfirsich-Modell" - oder einfacher: Man sollte Organisationen nicht von oben nach unten denken, sondern von außen nach innen. Konkret: Außen, in der Peripherie (der "Pfirsich-Schale") ist die "Umwelt" der DATEV. Also all die Kontaktpunkte zum "Markt" (Kunden, Wettbewerber, Politik, usw.). Dort entstehen Erfahrungen rund um Wünsche, Probleme, usw. - quasi alle "Überraschungen." Dinge, die man nicht wissen konnte, sonst hätte man es ja gleich richtig gemacht und auf die man jetzt reagieren sollte. Im Inneren, dem "Zentrum" (dem "Kern"), gibt es keinen direkten Kontakt zur Umwelt. Dort entsteht kein oder nur indirektes Wissen. In tayloristischen Organisationen - also quasi allen historisch gewachsenen Unternehmen - existiert ein starkes Zentrum. Also "Steuerungseinheiten", wie bspw. Stabstellen oder "Gremien" mit großer "Macht" (Veto-Rechte, Vorgaben, usw.), die aber selbst nur über gar keinen oder wenig Kontakt zum "Außen" verfügen. Dennoch steuern sie die Organisation, d.h. treffen Entscheidungen, obwohl andere näher am "Außen" sind. Oder sie definieren Regeln, Prozesse, Entscheidungswege, usw. Demgegenüber gibt es Einheiten in der Peripherie, die jegliche Marktreaktion direkt oder indirekt zu spüren bekommen, aber selbst nur wenige Entscheidungen treffen können, bspw. Service, Außendienst - und gewissermaßen auch "Kundeneinbezug" (auch wenn es formal eine "Zentrum-Einheit" gewesen ist). Bei uns lag irgendwo zwischen diesen beiden Dimensionen das "Wertschöpfungsteam." Sagen wir im "Fruchtfleisch." Die mussten mit der Steuerung des Zentrums arbeiten und benötigten das Wissen der Peripherie. Das war in Summe sehr ungünstig. Diejenigen, die die Wertschöpfung liefern müssen, wurden von zwei Seiten "bearbeitet" - unter Umständen mit widersprüchlichen Vorgaben. Das meint Gerhard Wohland auch damit, wenn er sagt, dass "die Organisation verblödet." Die gute Nachricht lautet: Genau diese Stärkung der Peripherie ist eines, wenn nicht das wichtigste, der Ziele von "Fit für die Zukunft." Wir sind also auf dem richtigen Weg. Die Vision ist da. Der Weg in der operativen Umsetzung ist aber bestenfalls begonnen. "Schritt für Schritt" höre ich häufig. Ich mag eher "Wenn die Einsicht existiert, dann kann man auch schlagartig alles auf den Kopf stellen." Aber das ist natürlich in einer Organisation voller Regeln - und auch externer Einflüsse (Satzung, Gremien, usw.) - gar nicht so einfach. *** Und in diesem Zusammenhang wichtig: Das System ist nicht die "Hinterbühne." Vielmehr wird ein System wie eine Theateraufführung beschrieben: Schauspieler führen auf der Vorderbühne ein Schauspiel auf. Sie agieren nach dem Drehbuch. Ob sie das Stück aber gut oder schlecht finden, was hinter der Bühne gesprochen wird, ob an Stühlen gesägt oder gerückt wird, was die Schauspieler wirklich denken, all diese Dinge und noch viel mehr, ist für den Zuschauer von außen nicht sichtbar. Achtung: Der Begriff der "Hinterbühne" ist nicht negativ! Im Gegenteil, die Hinterbühne ist das Rückgrat einer Organisation. Die Vernunft im Unsinn. Der "Staat im Staat." Konkret bedeutet das: Der Drehbuchautor ("das Zentrum") hat zwar etwas definiert, aber das halte ich für Quatsch und mache das doch anders. Entweder sichtbar (Vorderbühne, "Rebellion") oder eher unsichtbar ("Hinterbühne"). Es ist eigentlich ein Zeichen von Intelligenz der Peripherie. Die Hinterbühne verhindert den Kollaps des Systems. In unserem Beispiel von oben könnte also bspw. ein Wertschöpfungsteam eine intelligente Entscheidungen "gegen die Vorgabe vom Zentrum" treffen, weil man dadurch einen Mehrwert für das "Außen" erwartet. Das ist also noch kein "Querdenken", sondern einfach eine intelligente Reaktion der Hinterbühne. *** Aber die Frage zum "Querdenker" war vermutlich anders gemeint. Dieser Andersdenkende arbeitet erst einmal nicht direkt am System. Denken ist noch nicht Veränderung. Ich war früher oft selbst in dieser Rolle und habe primär die Vorderbühne bespielt. Ohne formale Macht ein auswegloser Versuch. Heute agiere ich lieber auf beiden Ebenen: 1. Vorderbühne: Ich verändere das, wofür ich formale Macht habe. Konkret ist das das Thema "Lernbegleitung für Kundeneinbezug." Wer eine meiner beiden Sessions beim DigiCamp besucht hat, wird nachvollziehen können, was ich damit meine. Durch meine Arbeit stärke ich die Autonomie der Peripherie und erhöhe den Marktkontakt derjenigen Einheiten, die Entscheidungen treffen statt Wissen in einer zentralen Stabstelle zu sammeln. Dazu gibt es bald auch einen Podcast, den ich bei Interesse gerne hier teilen kann. 2. Hinterbühne: Für andere systemische Veränderungen bespiele ich die Hinterbühne und überlasse es der Intelligenz der Kollegen, etwas mit den Impulsen anzufangen. Die Methode "Brechstange auf der Vorderbühne" hat sich als nicht so gut erwiesen ("Das System wehrt sich"). Wobei mir manche Kollegen sagen, dass mein neues Verhalten zwar "wirksamer" sei (sehe ich auch so!), aber die Organisation so auch eine Chance verpasst, um am Fallbeispiel zu lernen. Darüber denke ich noch nach. *** Nachträgliche Ergänzung: Die Hinterbühne, oft auch fälschlicherweise mit "Kultur" gleichgesetzt, kann sowohl Veränderung unterstützen als auch "sich wehren." Und dabei ist es wichtig, dass man erkennt: Es sind nicht die Menschen, oder deren "Böswilligkeit", sondern - im Gegenteil - ihre systemische Intelligenz, die dafür ursächlich ist (und sei es nur, um die eigene Haut zu retten). Will man also Veränderungen bei Menschen erreichen, muss man das System verändern, damit Freiraum für neue Handlungen entsteht. Ein "Rumdoktern" am Menschen (bspw. über "Führungsleitlinien") führt zu einem geänderten Verhalten auf der Vorderbühne, aber nicht wirklich zu einer echten Änderung im oft zitierten "Mindset." Diese "Einstellung" kann nur jeder für sich selbst hinterfragen. Kann es durch Erlebnisse reflektieren und nur für sich verändern. Man könnte auch sagen: "Wer an Menschen arbeitet, verändert nur das Schauspiel auf der Vorderbühne."
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